Tunesien

Klein Sizilien in Tunis

Nicht weit entfernt vom Kreuzfahrthafen: La Goulette, ein charmanter Stadtteil von Tunis. Foto: DaveLongMedia / iStockphoto

Wo Filmdiva Claudia Cardinale ihre Oma besuchte

Das kleine Schild ist auf Französisch und auf Arabisch verfasst: „Ici la petite Sicile.“ Wir sind in La Goulette, einem Stadtteil von Tunis, der auf eine lange italienische Tradition verweisen kann. Süditalienisch, muss man sagen: Denn die christlichen Fischer, die den Geschichten zufolge ihren Fang oft mit den einheimischen Muslimen teilten, kamen aus Sizilien.

Von dort kam auch die Familie des Vaters von Claudia Cardinale. Die Filmdiva wuchs in der Nähe des Bahnhofs von Tunis auf, ihre Großeltern jedoch lebten in La Goulette.

Den Grundstein für das noch heute mit der Vorortbahn erreichbare Klein-Sizilien, wo Claudia Cardinale als Kind regelmäßig ihre Großeltern besuchte, legte Ende des 19. Jahrhunderts die Familie Fasciotti-Gnecco aus dem tunesisch-italienischen Großbürgertum Sadok Bey. Der damalige Herrscher von Tunis hatte ihr ein Stück Sumpfland zwischen dem See und der Bucht von Tunis geschenkt.

Das Ehepaar ließ es trockenlegen und einstöckige Häuschen darauf bauen. Diese verkaufte es hauptsächlich an Fischer und Arbeiter aus Sizilien und Sardinien. Mit der Eröffnung des Hafens von Tunis 1893 fanden die Eingewanderten dort gute Beschäftigungsmöglichkeiten.

Welche Traditionen die „neuen“ Italiener mitbrachten – die ersten kamen im 15. Jahrhundert als verfolgte Juden aus der Toskana – und wie friedlich und fröhlich sie mit ihren Nachbarn anderer Konfessionen lebten, zeigt sich bis heute an vielen italienischen Familien-, Bar- und Restaurantnamen des Viertels sowie an der räumlichen Nähe von Kirche, Moschee und Synagoge. Auch können manch ältere Leute in „Klein Sizilien“ noch immer ein paar Worte Italienisch; sei es im Kiosk von Farouk oder im Café Bahia an der Karraka, der Festung von La Goulette. Und sie erinnern sich an gemeinsame Feste.

Omar Lasram spricht zwar ausschließlich Französisch und Tunesisch, doch sein winziges Lädchen mit tunesischer Feinkost etwa zwei Kilometer Luftlinie von Klein Sizilien entfernt hat er „Cacciola“ getauft – als Hommage an eine legendäre sizilianische Patisserie-Familie.

Nur knapp zehn Kilometer trennen das einstige Klein-Sizilien vom Zentrum von Tunis. Genauer gesagt: von dem Europäischen Viertel mit seinen herrlichen Belle-Époque-Bauten wie dem Majestic Hotel in der Avenue de Paris. Ihre östliche Parallelstraße heißt bis heute Rue de Marseille. An ihr wohnte die Familie Cardinale nach dem Zweiten Weltkrieg. Und dort ging Töchterchen Claudia auch in die Schule.

Das Gebäude gibt es nicht mehr, doch die Ikone des Sechziger-Jahre-Kinos hält ihrem Geburtsland immer noch die Treue. Jüngst kam sie zur Eröffnung der Cité de la Culture nach Tunis. Präsent ist sie dort allerdings auch, ohne persönlich vor Ort zu sein: Im Kinosaal hängt ein Filmplakat mit ihrem Konterfei.

Rita Henss
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