Taiwan

Der wilde Osten

Imposant: Die Küstenstraße wurde erst in den 40er Jahren gebaut. Foto: fh

Natur und Tradition zwischen Hualien und Taitung

Am Tag vor Chinesisch-Neujahr hat es Han Dan nicht gerade einfach: Stundenlang zieht er mit seinen bunt gekleideten Tänzern und Gefolgsleuten durch die Dörfer, während ihm Jugendliche mit sprichwörtlichem Feuereifer die Knallfrösche vor die Füße schleudern. Was ziemlich ungebührlich ist, denn eigentlich ist Han Dan ein daoistischer Gott.

Weil er sich aber selten in persona zeigt, muss eben hin und wieder ein Mensch seine Rolle übernehmen. Und so wird jedes Jahr ein junger Mann für die ohrenbetäubende Ehre auserkoren, den Gott auf der Prozession des „Bombing of Han Dan“ darzustellen. Ihn zu „befeuern“ bringt Glück, Reichtum – und für den Darsteller wahrscheinlich einen Ohrenschaden.

Lediglich an der Ostküste Taiwans wird dieser Feiertag begangen. Gibt es das, lokale Traditionen auf einer derart kleinen Insel? So eng die Städte geografisch aneinander liegen, so weit schienen sie noch vor wenigen Jahren kulturell auseinander. Denn gewaltige Gebirge trennen den städtischen Norden und Westen vom Osten Taiwans.

Wer sich für die wilden Landschaften Taiwans interessiert, kommt daher um den Osten nicht herum: Hier wirken die Kräfte der tektonischen Plattenverschiebung ganz besonders stark, fällt das Gebirge fast direkt ins Meer herab. Auf dem Weg von Taipeh nach Süden ist es wahrscheinlich die 88 Kilometer lange Küstenstraße zwischen Suao und Hualien, die den Reisenden das erste „Oha!“ entlockt.

Hoch über dem Pazifik gelegen, lässt sich auch heute noch nachvollziehen, wie mühsam es einst gewesen sein muss, diesen Weg anzulegen. Der erste Pfad stammte aus dem Jahr 1875, doch erst in den 1940er Jahren wurde daraus eine echte Straße, die in den 1980ern um eine zweite Spur erweitert wurde. Die 800 Meter hohen Chingshui-Klippen, der landschaftliche Höhepunkt der Strecke und wahrscheinlich die höchsten Meeresklippen der Welt, galten lange als unüberwindbar. Selbst die Großstadt Hualien musste bis in die 80er Jahre noch per Schiff mit den wichtigsten Waren versorgt werden.

Kein Wunder, dass sich der Osten ganz besonders ungezähmt zeigt: dichter subtropischer Wald, spektakuläre Gipfel. Stille und Leere. Allerdings mit befestigten Wegen – Taiwan ist schließlich kein Entwicklungsland. Selbst die Menschen erinnern kaum an die hektischen Hauptstadtbewohner: Bis heute ist der Osten auch die Region der Ureinwohner Taiwans, der Ami, der Atayal und Bunun, um nur einige zu nennen, deren austronesische Herkunft offensichtlich ist.

Auch kulturell ist alles ein bisschen bunter, wilder, ungezügelter als im Norden. Wenn am Neujahrstag die Bombardierung des Han Dan stattfindet, steht kein finanziertes Kulturprogramm dahinter, keine Fremdenverkehrsinitiative. Aber vielleicht die Vereinigung der Ohrenärzte von Osttaiwan? Denn das traditionelle Fest treibt ihnen garantiert die Patienten in die Praxis.
Françoise Hauser