Indien

Abkürzung zum Himmel

Scharen von Pilgern nehmen bei Sonnenaufgang ein Morgenbad im Fluss.

Varanasi ist die heiligste Stadt des Hinduismus

Die Treppen zum Ganges ziehen sich über Kilometer durch die Stadt. Fotos: cd

Eine Stunde vor Sonnenaufgang ist Hari Hara Shastri bereits an seinem Platz, einem flachen Holzpodest an den Steinstufen hinunter zum Ganges. Der Theologiestudent geht im Auftrag eines Brahmanen seelsorgerlichen Pflichten für die Pilger nach. Er ist in ein gelbes Tuch gehüllt, ein Smartphone mit Internet-Funktion gehört ebenfalls zu seiner Ausrüstung. Seinen gut bezahlten Job als Wirtschaftswissenschaftler hat er aufgegeben, er will nach Höherem streben. In der heiligsten Stadt der Hindus schreibt er nun an einer Doktorarbeit über Vedische Philosophie. Danach will er Mönch werden und zurückgezogen leben.

Varanasi, unter muslimischer und britischer Herrschaft als Benares bekannt, wird von Gläubigen meist Kashi genannt, "Ort des Lichtes". Seit über 2.500 Jahren pilgern gläubige Hindus in die "ewige Stadt" ungefähr auf halbem Weg zwischen Delhi und Kalkutta. Die Riten und Regeln der Wallfahrt haben sich über Jahrhunderte nicht verändert.

Nach Varanasi geht man der frommen Erleuchtung wegen oder um den ewigen Kreislauf der Wiedergeburt zu durchbrechen. "Abkürzung zum Himmel" wird die Stadt darum auch genannt. Wer hier stirbt, am Flussufer verbrannt und als Asche den Fluten des Ganges übergeben wird, dem sei endgültige Erlösung gewiss, heißt es. In Sterbehospizen warten viele auf den Tod, verweigern Nahrung wie Medikamente und stillen ihren Durst nur noch mit Wasser aus dem Ganges.

Andere pilgern nach Varanasi, um dem Nirwana schon zu Lebzeiten ein wenig näher zu kommen. Über Kilometer ziehen sich die Ghats genannten Treppen zum Fluss dahin. Wenn die ersten Sonnenstrahlen auf das Ufer fallen, nehmen die Gläubigen ein Morgenbad im Ganges.

Mag sein Wasser noch so verschmutzt sein, der Strom, der die Lebensgrundlage für rund 400 Millionen Menschen dargestellt, gilt als rein und heilig. Bis über den Kopf tauchen die Pilger immer wieder ein, lassen Tonschalen mit Blumenkränzen und Feueropfern in die Wellen gleiten. Saris treiben wie bunte Blütenblätter um die Körper badender Frauen. Sadus genannte Mönche mit orange-roter Kleidung und bizarrer Gesichtsbemalung wirken wie Wesen von einem anderen Stern.

Touristen werden in Booten auf dem Fluss gerudert und beobachten die so exotische wie befremdende Szenerie. Fotografieren darf man überall, außer an den Verbrennungsplätzen. Aber eigentlich will man nur staunen.

Die erste Begegnung mit Indien ist ohnehin eine einzige Überwältigung. Nie hat man so viele Farben beieinander gesehen, nie solche Klänge gehört, nie ein solches Amalgam von wundervollen und schrecklichen Aromen gerochen. Niemals auch hat man so viel Elend auf engstem Raum erlebt.

Varanasi aber ist noch verstörender als jeder andere Ort Indiens. Scharen von Bettlern und fliegenden Händlern leben von Pilgern und Reisenden. In den meisten Restaurants und Gästehäusern wird kein Alkohol ausgeschenkt und nur vegetarische Kost serviert. Je weiter der Tag voranschreitet, desto mehr Scheiterhaufen brennen am Manikarnika Ghat. Die ohnehin schwere Luft ist von Rauch geschwängert.

Die Gläubigen pilgern von einem Tempel zum nächsten. In die meisten werden nur Hindus eingelassen. Gegen Abend strömen die Menschen zurück ans Ufer. Sobald die Nacht fällt, ertönen unzählige Glöckchen. Priester steigen auf die Podeste, schwingen zu Gongschlägen aus Messing getriebene Kelche mit Feuer und Rauch, später große Leuchter in Form eines Lichterbaumes. Aus Lautsprechern ertönen fromme Weisen. Flutlichter setzen den Gottesdienst wie auf einer Theaterbühne in Szene. Die beste Sicht hat man wieder vom Wasser aus, wo die Ruderboote sanft im Ganges schaukeln. Varanasi erschüttert und fasziniert zugleich.
Claudia Diemar
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