Indien

Religion, Kult und Fantasy

Buntes Treiben: Die Temple Street ist immer voll mit Leben.

In Madurai steht die größte Tempelanlage des Landes

Auf der Suche nach Erleuchtung: ein Guru in der Tempelstadt. Fotos: jm

Rikschafahrer bahnen sich ihren Weg durch die Menschenmasse, vorbei an heiligen Kühen und Marktständen. Händler reden wild durcheinander und bieten Tee, Gewürze, Armbänder oder Schuhe an. Lotusblumenverkäuferinnen flechten Girlanden. Bettler schauen flehentlich. Es ist heiß. Das Hemd klebt schweißnass am Körper.

Indien ist eine Achterbahnfahrt an Eindrücken und Erlebnissen – das gilt auch für Madurai. Die Stadt im Bundesstaat Tamil Nadu ist mit fast zwei Millionen Einwohnern kein Moloch wie Mumbai (Bombay) oder Delhi, aber dennoch ein kakophones Gebilde der modernen Zeit mit 2.000 Jahre alten Wurzeln.

Rund um die größte Tempelanlage Indiens, den Sri-Meenakshi-Tempel, sieht man Touristen aus allen Kontinenten. Aber nur zehn Fußminuten weiter fühlt man sich um Jahrzehnte zurückversetzt. An einer Garküche wird der Curry aus geheimnisvollen Gewürzen auf einem Bananenblatt serviert. Gegessen wird mit der Hand. Danach landet der „Teller“ schnurstracks auf der Straße. Keine Minute später trottet eine Kuh heran und vertilgt seelenruhig das Blatt mit Curry-Geschmack: Abwasch à la Tamil Nadu.

Madurai ist eine der ältesten Städte Südindiens und äußerst lebendig. Die Straßen sind überfüllt mit Menschen, Fahr- und Motorrädern, Rikschas und Autos. Madurai ist Großstadt, Pilgerstadt, Industriestadt – von weitläufigen Reisfeldern umgeben. Es gibt Asketen, die nie sprechen, aber auch Programmierer, die ebenso gut im Silicon Valley arbeiten könnten.

Doch alle, aus welcher Kaste oder Branche auch immer, interpretieren die Kunst zu leben stets als die Kunst zu überleben. Die Tempel helfen diesen Menschen. Dort finden sie ihre Ruhe und die Kraft von unzähligen Gottheiten, egal, wie viele Touristen knipsen und in ihren Tennissocken über die Kulturschätze staunen.

Der Sri-Meenakshi-Tempel aus dem 15. Jahrhundert ist einer der prächtigsten Hindu-Tempel des Landes und eine bedeutende Wallfahrtsstätte. Mit seinen vier rund 50 Meter hohen, bunten Gopurams (Tortürmen) und den Tausenden Götterfiguren, Fabelwesen, Dämonen und Tempelwächtern wirkt er auf Westler manchmal wie eine Mischung aus Kult, Fantasy und Legende.

Diese besagt: Wo heute der Tempel steht, gaben sich zwei Götter das Ja-Wort: Shiva und Meenakshi. Deshalb herrscht von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang ein Treiben wie in einem Bienenhaus. Tausende strömen täglich herbei, manche Pilger nehmen lange Reisen auf sich. Besonders groß ist der Andrang zu den Tempelfesten, deren größtes im April stattfindet. Dann wird zwölf Tage lang der Gründungsmythos zelebriert: die Hochzeit der beiden Götter.

Jochen Müssig
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