In der Stadt hat sich eine kleine architektonische Sensation vollzogen
Die Dachterrasse des „Bella Vista“ hält, was sie verspricht: Hier oben kann man sich entspannt in hippem Design zurücklehnen, Cappuccino schlürfen und vis-à-vis vom mächtigen Münsterturm in die Runde gucken. Vorn fasziniert das provozierend schöne Stadthaus des New Yorker Stararchitekten Richard Meier, hinten stapeln sich die Kuben des neuen Sparkassengebäudes gefolgt von Wolfram Wöhrs „Kunsthalle Weishaupt“ auf gläsernem Sockel. Man selbst thront auf dem kühn spitzwinkligen Münstertorbau, wie auch die Bank ein Entwurf von Stephan Braunfels. Klingende Namen am Architekturhimmel der Neuzeit.
Wieder unten auf dem Münsterplatz:. Den „höchsten Kirchturm der Welt“ muss man mit Abstand betrachten, um seine exakt 161,53 Meter so richtig würdigen zu können. Mit guter Kondition ist dieser filigrane „Finger Gottes“ über 768 Stufen zu erklimmen, totaler Durch- und Überblick garantiert. Aber auch mit beiden Beinen auf der Erde gibt es genug zum Staunen. Mit schneeweißen Rundungen und Öffnungen, die den Himmel freigeben, setzt das Stadthaus einen scharfen Kontrast zum Dunkel des Münsters. Dass der Richard-Meier-Bau bereits 1993 – nach langen Bürgerdiskussionen freilich – verwirklicht werden konnte, spricht für Mut und Weitsicht der Ulmer Stadtplaner.
Heute ist der „Hingucker“ längst akzeptiert, und Ulm macht schon wieder Schlagzeilen in Sachen Architektur, denn die „Neue Mitte“ gilt als städtebauliches Meisterstück, das von der Fachwelt in den Himmel gelobt wird. Eine hässliche sechsspurige Stadtautobahn, die das Münster brutal vom Marktplatz und dem historischen Fischerviertel trennt, wurde mit edler Architektur überbaut, dazwischen viel Freiraum zum Flanieren.
Mittelalter und Moderne stoßen auch am Marktplatz aneinander – ohne sich Konkurrenz zu machen. Neben dem prächtigen Renaissance-Rathaus scheint die gläserne Pyramide der Zentralbibliothek in der Luft zu schweben, so leicht und durchlässig wirkt der Bau, der seit 2004 den Platz höchst dekorativ abschließt.
Mittelalter in Reinkultur dann in den krummen Gassen des Fischerviertels, das sich zwischen die Arme des Flüsschens Blau drängt. Hier, nur ein paar Schritte von der Donau entfernt, züchteten die Fischer ihre Forellen, da klapperten Mühlräder und wuschen Gerber die Häute im Bach. Heute gehört das pittoreske Viertel zwar den Touristen, aber doch nicht ganz. Das einstige Handwerkerviertel hat sich zum Nobelquartier gemausert – dort zu wohnen ist absolut in und sündhaft teuer.
Ulm war schon immer für Überraschungen gut. Es kann neben dem höchsten Kirchturm und dem schiefsten Hotel, der größten Festung und dem kleinsten Theater auch mit geradezu südländisch überbordender Feierfreude und einer beachtlichen Zapfhahndichte punkten. An Letzterem sind sicher die 10.000 Studenten in Deutschlands jüngster Universitätsstadt nicht ganz unbeteiligt.