Wer in Russlands Hauptstadt nicht versinken will, sollte einen Plan haben
Die Rolltreppe rollt und rollt und rollt. Irgendwann fragt man sich, wo man wohl rauskäme, auf der anderen Seite des Globus, wenn die Fahrt in die Tiefe nicht bald endet. Der weiß gekachelte Schacht führt zur Moskauer Metrostation Park Pobedy, 126 Meter unter der Erde. Damit besitzt die russische Metropole eines der tiefsten U-Bahn-Systeme der Welt – und mit rund neun Millionen Fahrgästen täglich auch eines der am stärksten genutzten. Aus gutem Grund: Bis zu sechs Millionen Autos wälzen sich von morgens bis abends über Moskaus Straßen. Da wird es zur Rushhour verdammt eng.Fast 300 Kilometer erstreckt sich das Metrogeflecht unter dem Stadtgebiet. Die ersten der heute 184 Stationen wurden unter Stalin gebaut und von ihm 1935 mit den Worten „unterirdische Paläste für die proletarischen Massen“ eingeweiht. In der Tat ist die Architektur prunkvoll: marmorne Säulen, vergoldete Kronleuchter, bunte Fliesen und Stuck. Im Zweiten Weltkrieg diente das Labyrinth als Luftschutzbunker, und im Kalten Krieg wurde es hermetisch verschließbar zu Schutzräumen aufgerüstet – für den Fall eines Atomschlags.
Die Doppelfunktion war von Anfang an geplant, daher die extreme Bautiefe.
Über der Erde hat Moskau zugleich an Glanz verloren. Stalin ließ fast zwei Drittel der Kirchen und Kathedralen abreißen und Teile davon in den Metrostationen verbauen. Auch die Christ-Erlöser-Kathedrale fiel der Zerstörungswut des Diktators zum Opfer. Ende des 20. Jahrhunderts wurde der größte russisch-orthodoxe Kirchenbau aber wieder rekonstruiert – weiß mit goldenen Kuppeln.
In jüngster Zeit hat sich das Antlitz von Moskau gehörig verändert. Die größte Stadt Europas befindet sich in einer Phase des Umbruchs und der Neuordnung.
Von ehemals 30 Bauernmärkten gibt es nur noch zehn; sie wurden von modernen Einkaufszentren verdrängt. Prestigeobjekt ist das Kaufhaus Gum am Roten Platz: ein weißer Märchenbau mit Glasdach und drei Gewölben. In den Designer-?Läden schwelgt die Überflussgesellschaft: Millionärstöchter, wie Christbäume mit Pelz, Schmuck und Taschen behangen. Moskau zählt 150.000 Millionäre – und zu den vier teuersten Städten der Welt. Das merkt man auch bei den Hotelpreisen, die durch wachsende Nachfrage und Bettenmangel in zum Teil Schwindel erregende Höhen getrieben werden. Doch ist Entspannung in Sicht: Es wird kräftig gebaut, besonders um den Kreml und den Roten Platz herum.
Was in Moskau nicht rot ist, ist oft weiß. Hinter den 2,2 Kilometer langen Kreml-Mauern blinken weiß-goldene Zwiebeltürme, und ständig sieht man irgendwo Brautpaare. Wer etwas auf sich hält, rollt mit einer weißen Stretch-Limousine zum Jawort. Im Moskauer Staatszirkus sind weiße Nummern beliebt: Schneeweiße Pudel schlagen Purzelbäume, Huskys turnen übereinander. Auch das Nightlife ist weiß: Die Anheizmädels im Nachtclub 1141 tragen Krankenschwester-Look.
Dabei korrespondiert die Farbe, die für Reinheit, Eleganz und Dekadenz steht, eher schlecht mit der Moskauer Geschichte. Dort, wo momentan die Stadt schwellt, waren früher Sümpfe. Heute umfasst der Großstadtsumpf 15 Millionen Einwohner, 40 Brücken, 9 Bahnhöfe und 4 Flughäfen. Die Monumente sind zahlreich und wuchtig. Man nehme nur die „Sieben Schwestern“, Denkmäler aus der Stalin-Ära wie das Hotel Leningradskaja, ein Monsterklotz in Stalagmitenform.
Touristen ist zu empfehlen, sich für einen Moskau-Besuch nicht zu viel vorzunehmen. Andernfalls kann man in dem Moloch versinken.