Durch bizarre Gletscherlandschaften zu einem der größten Wasserfälle Europas
Putzig sieht er aus, der pummelige, junge Eissturmvogel, wie er da im Unterholz sitzt, dem eisigen Wind trotzend. Doch hinter der tierischen Szenerie an diesem Ausflugsparkplatz, weit oben im Nordosten Islands, verbirgt sich ein kleines Drama. Denn seine Flügel haben ihn nicht weit genug getragen, um von seinem Brutplatz aus ans Wasser zu gelangen. Er wird verhungern."Das ist Natur", sagt Hördur, unser Guide, knochentrocken. Und die kann recht lebensbedrohlich sein auf dieser kalten, unwirtlichen Insel im Nordmeer. Nach unzähligen Vulkanausbrüchen tauchte Island vor ein paar Millionen Jahren im Atlantik auf. Nur eine Handbreit südlich des Polarkreises. Viele Vulkane sind noch aktiv. Im ständigen Zusammenwirken von Feuer, Wasser und Eis entstanden bizarre Landschaften.
Am Parkplatz Dettifoss im Nordosten Islands beginnt ein zirka dreistündiger Rundkurs entlang eines atemberaubenden Canyons. Dieser wurde im Lauf der Jahrmillionen durch einen zumeist reißenden Fluss in die Landschaft getrieben. Sein Name, Jökulsa a Fjöllum, verrät, worum es hier geht: "Gletscherfluss aus den Bergen." "Der zweitlängste Islands", erklärt Hördur. Mit mehr als 200 Kilometern Länge.
Die Wanderung beginnt auf einer Ebene. Gelbe Holzpflöcke weisen den Weg. Riesige Felsbrocken liegen herum. Fast scheint es, als hätten hier ein paar Riesen Murmeln gespielt und vergessen, die Dinger wieder einzusammeln. Doch die Felsen sind Spuren eines vorsintflutlichen Gletschers. Der hat die Blöcke einst hierher verfrachtet. Die Landschaft wirkt karg und geradezu dramatisch. "So könnte es auch auf dem Mond aussehen", meint Hördur.
Nach kaum zehn Minuten verschafft sich ein gewaltiges Tosen Gehör. In rund hundert Metern Entfernung schießt Dunst empor, nach allen Seiten. Der Selfoss ist erreicht - der erste Wasserfall auf der Wanderung. In breiter Front stürzen die Wassermassen fast 15 Meter in die Tiefe. Ein überaus schöner Anblick. Und doch führt der Selfoss in touristischer Hinsicht eher ein Schattendasein. Was am großen Bruder liegt, dem knapp einen Kilometer nördlich gelegenen Dettifoss. Dieser Wasserfall wird als nächster angesteuert.
Man bleibt flussabwärts in der Nähe des teilweise senkrecht abfallenden Canyon-Randes. Etwas holprig geht es über eine Stein- und Schotterpiste, den Blick stets auf den grau-trüben Jökulsa a Fjöllum gerichtet. Erdgeschichte zum Greifen nahe. In seinen Fluten führt der Fluss Unmengen an Schutt und Sand aus den Bergen mit sich. Pro Tag mehrere Eisenbahnwaggons voll. Er entspringt am Vatnajökull.
Wer in Erdkunde aufgepasst hat, weiß: Der Vatnajökull ist - vom Volumen her - der größte Gletscher Europas. Auf jeden Fall ist er der unaussprechlichste. "Wenn man weiß, wie die Buchstaben betont und ausgesprochen werden, ist es aber ganz einfach", meint Hördur. Geduldig hört er sich ein paar Sprechproben an. Die zungenbrecherischen Versuche von Touristen, dem Isländischen Herr zu werden, ruft bei Einheimischen in der Regel ein höfliches Lächeln hervor - weniger ein beleidigtes Grollen.
Dafür grollt jetzt die Erde. Der Dettifoss kündigt sich an. Sein Tosen ist so stark, dass man meint, die Erde würde beben. Wasserwolken streben in die Höhe, Gischt spritzt meterweit. Auf einer Breite von gut 100 Metern stürzen die trüben Fluten des Jökulsa a Fjöllum rund 40 Meter tief hinab.
Der Dettifoss konkurriert um den Titel des größten Wasserfalls Europas. Sicher ist, dass er der energiereichste ist. Die graue Brühe bietet einen fast apokalyptischen Anblick. Hinreißend. Mitreißend. Brodelnd. Man fühlt sich wie in Teufels Küche. Der Dettifoss ist nicht zufällig eines der meistfotografierten Motive Islands.