Finnland

Am roten Briefkasten links

Manche Ferienhäuser sind nur mit dem Boot zu erreichen. Foto: Visit Finland

Auf Ferienhauspirsch im finnischen Saimaa-Seengebiet

"Am vierten roten Briefkasten östlich des Ortsausgangs links, danach knapp zehn Kilometer weit dem Waldweg folgen. An der fünften Gabelung rechts, dann etwa 700 Meter geradeaus, beim gelben Briefkasten wieder rechts": Was sich wie verworrene Anweisungen zum versteckten Treffpunkt zweier Aushilfsagenten liest, entpuppt sich als die um Präzision bemühte Wegbeschreibung zu einem Ferienblockhaus am Ufer des Kesälahti-Sees im finnischen Saimaa-Seengebiet - und schließt mit "angenehmen Aufenthalt".

Straßennamen, Läden, Kirchtürme oder auch nur Hausnummern als Orientierungshilfen gibt es im skandinavischen Urwald rund 230 Kilometer östlich von Helsinki nicht mehr. Nicht auf den Forstwegen und Pisten abseits der asphaltierten Landstraßen. Nur immer neue Abzweigungen ins immer gleiche Grün. Und gelegentlich Briefkästen, von denen manche nicht rot sind. Zum Glück. Gewisse Farbenfreude erleichtert die Orientierung. Die dazugehörigen Häuser sind von den holperigen Waldwegen aus nie zu erkennen. Sähe man den Nachbarn - und sei er noch so nett -, wäre die Enge zu groß. Finnen würden von "dichter Bebauung" sprechen.

Das Land der 200.000 Seen bietet diesen Platz. Und wer es dann gern mal gesellig hätte, müsste quer über den See zum nächstgelegenen Gebäude rudern. Das Animationsprogramm beschränkt sich ohnehin aufs Schwimmen im klaren Seenwasser oder aufs Holzhacken fürs abendliche Kaminfeuer. Aufs Kochen oder aufs Vorsichhinträumen, auf Lesen, Schweigen, Abschalten.

Vor alledem aber erfordert Info-Faltblatt des Ferienhausvermieters Spürsinn und offene Augen. Allzu leicht könnte man sonst eine der Gabelungen übersehen oder den orangenen Briefkasten kurz hinter der Landstraße bereits voreilig als einen der vier roten werten und mitzählen. Schlimm ist das nicht, sich hier bei der Suche nach dem gebuchten Quartier zu verzetteln. Es gehört dazu, wird quasi erwartet. Und es ist ein typisches Finnland-Erlebnis.

Im Zweifel bleibt nur, den Weg bis zur letzten verbürgten Gabelung oder zur letzten befestigten Landstraße zurückzufahren und es mit dem Vermieterfaltblatt auf dem Schoß ein zweites Mal zu versuchen. Oder ein drittes. Manchmal noch öfter. Es ist vor allem vor diesem Hintergrund eine nette Geste der Natur, dass es in Finnland während der sommerlichen Ferienhaussaison so spät dunkel wird.

Dem Vermieterzettel ist man ausgeliefert, denn sich alternativ bis zum Ziel durchfragen zu wollen, scheidet aus. Wo keine Menschenseele unterwegs ist und es keinen Gegenverkehr gibt, sind potenzielle Adressaten für die Frage nach dem richtigen Weg rar. Also: dasselbe noch mal von vorn und noch mal zählen. Viermal knallrot, dann links. Der Tacho weiß es genau: nach 9,8 Kilometer die fünfte Gabelung. Rechts einschlagen. Hüfthohe Sumpfgräser scheuern auf dem engen Weg an der Karosserie, Birkenäste gravieren Grüße aus der Wildnis in den Dachlack. Der Beginn von Ferien irgendwo in den Wäldern Ostskandinaviens, fernab aller Großstadthektik.

Genau das, was man sich gewünscht hat. Das, weswegen man hergereist ist. Einsamkeit. Weite. Stille. Natur. Was macht es da schon aus, dass es der sonst so plapperfreudigen festinstallierten Pfadfinderin im Navigationssystem die Stimme verschlagen hat. Sie schweigt. Schon lange. Zum Glück. Es macht die ersehnte Einsamkeit umso glaubwürdiger.
Helge Sobik
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