Auf Kanadas Straße ans Eismeer
Geisterhafte Nebel wabern diesen Nachmittag über grellgrüne, leicht gewellte Landschaften, über graubraune Abhänge. Die Richardson Mountains wirken wie nicht von dieser Welt, wie Fantasien aus Tolkien-Büchern, wie Mittelerde am Polarkreis.Eine Straße windet sich durch diese Berge. Es gibt Leute aus dem Süden, die fliegen nach Dawson City oder Inuvik und mieten ein Auto, nur um einmal auf dem Dempster Highway zu fahren. Es ist die einzige öffentliche Straße, die durch Yukon und die Northwest Territories bis fast hinauf ans Eismeer führt. 2019 wird sie ihren 40. Geburtstag feiern – und auf ein Dasein voller Schlaglöcher zurückblicken. Nun wurde ihr mit dem Inuvik-Tuktoyaktuk Highway eine 200 Kilometer lange Verlängerung ins Mackenzie-River-Delta hinein spendiert.
Für Bill Rutherford ist diese Straße Alltag. Für ihn sind die Präriehunde am Weg normal, für ihn sind die Karibu-Herden auch selbstverständlich, deren 120.000 Tiere im Frühjahr und im Herbst zwischen Eagle Plains und Fort McPherson das Straßenband überspringen. In Eile sind sie dabei nicht, denn sie sind in der Mehrheit. Die Rentiere bestimmen das Tempo, weil ihnen der Dempster Highway gehört. An normalen Tagen kommt stundenlang kein Fahrzeug vorbei, und dass zwei zugleich auftauchten, ist seltener Zufall.
Seit vielen Jahren auf der Piste
Rutherford kennt die staubige Strecke wie kein anderer. Seit vielen Jahren fährt er nach festem Fahrplan den Dempster Highway vorbei am Mount Tombstone und bis hinauf nach Inuvik. Alle drei Wochen ist er dort oben im Mackenzie Delta kurz vorm Eismeer und verkauft von der Hebebühne seines Kühltrucks, was immer er diesmal an Ware mitgebracht hat – frische Erdbeeren, Vollmilch, Schweineschnitzel, Frischkäse und Weintrauben. Alles, was er auf dem Großmarkt von Edmonton bekommen konnte und alles billiger als die Dinge, die per Luftfracht in Inuvik einschweben.
Manchmal ist Bill erst einen Tag später da, wenn das Geröll der Piste unterwegs einen Reifen aufgeschlitzt hat oder die Fähre über den Mackenzie zwischen Fort McPherson und Arctic Red River wieder mal mit Maschinenschaden Zwangspause machen musste. Auf dem Rückweg gibt er dann Gas und holt die Verspätung wieder ein.
Das touristische Interesse wächst
Die Leute aus dem Süden, die einmal seinen Alltag erleben wollen, werden immer mehr. Mit dem Wohnmobil wollen sie den Dempster bezwingen, einmal von den Toren von Dawson City im Yukon Territory bis nach Inuvik im Mündungsdelta des Mackenzie Rivers ganz oben in den Northwest Territories fahren.
Jeder Blick durch die riesige Frontscheibe ist bei dieser Fahrt wie großes Kino: als ob auf dem Glas ein Film nach dem anderen abgespielt würde – vom Road Movie bis zum Westernklassiker, vom Tierfilm bis zum Abenteuer-Thriller. Als tourte das Fahrzeug durch ein einziges riesiges Autokino und wäre von einer 360-Grad-Leinwand umgeben, die sich mitbewegt.
736 Kilometer weit führt die Piste durch hellgrüne Mooslandschaften wie aus der Urzeit, durch violette Blütenmeere im arktischen Sommer, durch Gebirge, in denen sich noch niemand die Zeit ‧genommen hat, jedem Gipfel einen Namen zu geben. Die meisten Fahrzeuge hier oben sind hochachsige Geländewagen und gewaltige Laster sowie Pick-up-Trucks.
Landschaft in XXL braucht Fahrzeuge in Übergröße. Und naht einer wie Bill Rutherford, dann kündigt er sich kilometerweit aus der Entfernung durch seine riesige Staubfahne an. Jeder, dessen Fahrzeug kleiner ist, nimmt den Fuß vom Gas, rückt an den rechten Rand der Piste.
Durchgängig befahrbar ist der Dempster nur für etwa zehn Monate im Jahr. In der Übergangszeit ist er gesperrt, wenn der Mackenzie bereits zu viel Eis führt, als dass die Fähre aus Arctic Red River noch übersetzen könnte und es umgekehrt noch nicht fest genug ist, um als Brücke zu dienen.