Brasilien

Sinnliche Betonschluchten

20-Millionen-Menschen-Moloch: das Hochhausmeer von Sao Paulo.

Sao Paulo: Die brasilianische Millionenmetropole interessiert sich neuerdings auch für Touristen

Ob Schuhe oder Obst: Sao Paulo bietet ...

... beste Bedingungen für Shopping-Feldzüge.

Würde man das Spieglein an der Wand befragen: "Welche ist die gesichtsloseste Megastadt der Welt?", könnte die Antwort des allwissenden Mediums lauten: "Sao Paulo." In der bevölkerungsreichsten Metropole Brasiliens treiben mehr als elf Millionen Menschen durch einen Ozean der Hochhäuser - rau, grau, endlos. Verkehrsbrandung und Abgasdunst von sieben Millionen Autos, Geschäftshochburg mit Business-Hotels und 200 Helikopterlandeplätzen für Big-Boss-Überflieger. Historische, natürliche oder futuristische Wahrzeichen? Fehlanzeige.

Altehrwürdig, liebreizend, utopisch - all das ist Sao Paulo nicht. Hätte der Moloch nicht diese gigantischen Ausmaße - mit 20 Millionen Einwohnern ist er einer der größten Ballungsräume auf dem Globus -, wäre er bloß ein Prachtexemplar der Mittelmäßigkeit. Erst vor wenigen Jahren hat die Stadt damit begonnen, sich für ihre Hässlichkeit zu interessieren. Um die Umweltverschmutzung einzudämmen, auch die optische, wurde ein "Clean City"-Gesetz erlassen. Jeder Paulistano muss nun einmal pro Woche zu den Stoßzeiten sein Auto stehen lassen, Kameras kontrollieren das. Weitere Maßnahmen sind neue Grünflächen und ein Werbeverbot: blinkende Leuchtreklame, bunte Plakatwände und Litfaßsäulen nirgendwo. Ohne grelle Großstadtschminke erweckt Brasiliens Hauptbecken für Finanzhaie fast sozialistischen Anschein - welch Täuschung.

Sao Paulo kümmert sich neuerdings auch um Touristen. Taxifahrer und Stadtführer wurden trainiert und zugleich neue Angebote geschaffen. Dazu zählen die "Turismetro"-Führungen zum Preis eines Bahn-Tickets und die "Sensations Map", die zu den sinnlichsten Sehenswürdigkeiten in den Betonschluchten geleitet. Darüber hinaus gibt es das "Stay another day"-Programm - Thementouren, die Geschäftsreisende dazu veranlassen sollen, noch einen Tag für Besichtigungen dranzuhängen.

Das ist natürlich ein Witz für eine Stadt wie diese. Denn Sao Paulo - das sind auch sechs Millionen Italiener, 300.000 Deutsche, viele Portugiesen, Japaner und Juden, summa summarum rund 100 Nationen. "Am besten speist man im italienischen Viertel Bixiga", meint Stadtführer Ilan. Am fremdartigsten sei das Liberdade-Viertel, auch Japanese Town genannt, mit Lampion-ähnlichen Straßenlaternen. Und am brasilianischsten kaufe man auf dem Mercado Municipal ein, Markthallen im neoklassizistischen Stil mit Motiven der Landwirtschaft auf großen bunten Glasfenstern, made in Germany. An den Ständen türmen sich Früchteberge, Gewürze, Nüsse, Palmöl, Fleisch und Fisch. Wer dort nicht fündig wird: 79 Shopping-Zentren und 60 Einkaufsstraßen, einige davon auf bestimmte Waren spezialisiert, Elektrogeräte, Hochzeitskleidung oder Lampen, laden zum Konsum-Marathon ein.

Wenn schon kein touristisches Herz, so hat Sao Paulo zumindest aber eine Hauptschlagader: die mehr als drei Kilometer lange Avenida Paulista auf dem höchsten Hügelkamms der Stadt. Um die Jahrhundertwende ließen sich dort Geldadel und Kaffeebarone eklektische Villen errichten. Es folgten die Machtzeichen der Großindustriellen und schließlich Bürotürme internationaler Industrie- und Handelskonzerne, Banken, Versicherungen.

Das vorläufige Ende vom Lied der Abriss- und Aufbauschlacht ist eine schroffe Meile. Doch hinter manchen Mauern verbergen sich Kostbarkeiten wie das Museu de Arte de Sao Paulo (MASP) mit der bedeutendsten Kunstsammlung Südamerikas - Werke von Cézanne, Picasso, Rafael und Rembrandt bis Van Gogh. Und zuweilen wird es auf der Paulista auch bunt, ist sie doch Open-Air-Bühne für Veranstaltungen wie die größte Gay Parade der Welt.

Ja, Zerstreuung bietet Sao Paulo im Überfluss. Die Tourismuswerbung jongliert mit Zahlenbällen wie diesen: 300 Kinosäle, über 160 Theater, 110 Museen, 40 Kulturzentren, 7 Fußballstadien, 5 Vergnügungsparks und die Interlagos-Rennbahn, Station der Formel 1-Rennen. Gesamtbilanz: mehr als 90.000 Events pro Jahr.

Nach Sao Paulo zieht es mittlerweile elf Millionen Touristen jährlich - mehr als die Hälfte davon nicht aus geschäftlichen Gründen. Über 400 Hotels mit 42.000 Zimmern bieten ihre Dienste an. Eine der ersten Adressen ist das Fünf-Sterne-Hotel Tivoli Sao Paulo Mofarrej, 23 durchinternationalisierte Stockwerke, ummantelt von nackten Betonbögen im Brutalista-Baustil. Auf dem Dach befindet sich der obligatorische Helikopter-Landeplatz, darunter kredenzt ein spanischer Sterne-Koch, und wiederum eine Etage tiefer ist die mit 750 Quadratmetern größte Präsidentensuite Südamerikas untergebracht - schwarzer Fellteppich, mattgoldene Satinkissen und Claudia-Schiffer-Fototapete. Im Elements Spa by Banyan Tree können sich die Business-Kunden von asiatischen Angestellten Bilanzfalten aus den Stirnen streichen lassen, und im untersten Stockwerk wird getagt. Ablenkung vom trockenen Tagwerk verheißen Sao Paulos Luxusclubs wie das "Kiss & Fly", Parkett für brasilianische Bilderbuchschönheiten.

Sao Paulo geht aber auch günstig. Und dem Wesen der Stadt begegnet man sowieso - überall und nirgendwo. Sao Paulo, das ist der Obelisk, der an die Opfer der Diktatur erinnert. Die orthodoxe Kirche mit ihren Goldkuppeln. Die Siegesfigur der Portugiesen, die ihre Arme in den Himmel wirft.

Und Sao Paulo ist das Fußballmuseum, ein Altar zur Anbetung brasilianischer Fußballhelden. In dem Museum, das in die Zuschauertribüne des Stadions Paulo Machado de Carvalho integriert ist, darf gehört, geschaut, gekickt und gelitten werden. In einem schwarz ausgekleideten Raum zittert der Tiefpunkt der brasilianischen Fußballgeschichte als Schwarzweißstreifen über die Leinwand: der 16. Juli 1950, an dem der Gastgeber in Rio de Janeiro das Finalspiel gegen Uruguay verlor. Als Reaktion auf diese Schmach schaffte Brasilien die weiße Spielkleidung der Nationalmannschaft ab.

An einer anderen Stelle des Museums wird der Besucher daran erinnert, dass zu Sao Paulo auch 2.000 Favelas, Armenviertel, gehören. In einem Schaukasten sind die Gegenstände ausgestellt, mit denen brasilianische Kinder Fußball spielen, wenn sie keinen Ball besitzen: Limonen, Sockenknäule, Dosenklumpen, Plastikpuppenköpfe, Steine.

Pilar Aschenbach

 

City-Tipps
Flug: TAP Portugal bietet bis zu 17 wöchentliche Flüge via Lissabon an.
Stay another day-Programm: www.fiquemaisumdia.com.br
Turismetro: an den Wochenenden zweimal täglich, www.metro.sp.gov.br
Sensations Map: Karte mit Sehenswürdigkeiten in fünf Sinneskategorien, www.mapadassensacoes.com.br
Fußballmuseum: www.museudofutebol.org.br (nur auf Portugiesisch)
Nachtclub: www.kissandflyclub.com, Eintritt rund 100 Euro für Frauen und 150 Euro für Männer
Tivoli Sao Paulo-Mofarrej: www.tivolihotels.com 

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